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Hört uns zu! - Bücher für das Nicht-mehr-da und Noch-nicht-hier

Ist die Jugendliteratur und das Lesen noch zu retten?

Ja, wenn wir einander zuhören, sagt Freya Schwachenwald, Lesefördererin und Studentin der Kulturwissenschaften

Provokativ zusammengefasst sieht die aktuelle Situation des deutschen Jugendbuches etwa so aus: Auf der einen Seite scheinen die deutschen Jugendbuchverlage kläglich daran zu scheitern uns – die Jugend – zu erreichen. Die Ergebnisse des Bundesbildungsberichtes, die sinkenden Verkaufszahlen, die prekären Arbeitsverhältnisse für junge deutsche Autoren, all diese Unkenrufe zeichnen ein düsteres Bild für die Zukunft des Buches (und der Jugend). 

Auf der anderen Seite melden sich Experten zu Wort, die meinen, uns - die Jugend - zu verstehen und bieten wohlklingende Lösungen: Jugendliteratur muss politischer werden! Die Bücher müssen sich an das digitale Zeitalter anpassen! Wir brauchen mehr Bücher von deutschen Autoren! Und auch wenn viele dieser Ansätze lobenswert sind, scheinen sie keine Trendwende zu bewirken. 

Wahrscheinlich gibt es keine Universallösung. Und doch ist es an der Zeit, einen Ausweg jenseits von zielgruppenspezifischem Marketing und Digitalisierung zu suchen: hört uns jungen Menschen zu! Oder noch besser: lasst uns einander zuhören. 

Begeisterung statt Zielgruppenmarketing

Ich skype mit Rina und Kathrin, die fünfzehn und sechszehn Jahre alt sind, um über junge Menschen und Bücher zu diskutieren. Beiden lesen sehr viel. Und nicht nur das. Sie organisieren Literaturfestivals, schreiben Slamtexte und Rezensionen, debattieren über Bücher und Politik. Sie engagieren sich ehrenamtlich beim Lübecker Bücherpiraten e.V., dem Verein für Leseförderung und zivile Partizipation, für den auch ich mich seit meinem neunten Lebensjahr einsetze. Als ich sie frage, was sie sich von den deutschen Jugendbuchverlagen wünschen, herrscht erst einmal Stille. Kathrin bricht sie schließlich: „Ich sehe sehr häufig gar keinen Unterschied zwischen Jugendbüchern und Erwachsenenbüchern“. Damit sind wir direkt beim ersten Problem: Kategorien. Jung sein – im Leben wie in der Literatur – ist ein Zwischenzustand, ein Nicht-mehr-da und Noch-nicht-hier sein, ein Ausprobieren und Hinterfragen. Warum werden wir dann in Zielgruppen eingeteilt, warum sollen spezifische Farbcodes, Schriftarten und Geschichtenmuster über unsere Lesepräferenzen entscheiden? 

Natürlich ist diese Einteilung im Interesse des Verlages, der, vergessen wir das nicht, vor allem ein Unternehmen ist. Der Markt für Jugendbücher ist kleiner als der für Sachbücher oder Belletristik. Gleichzeitig müssen Verlage dieselben Auflagenzahlen produzieren um ein Buch profitabel zu machen. In diesem Widerspruch treffen Verlage ihre Entscheidungen. Das ist natürlich nicht einfach. Doch in dem resultierenden Zielgruppendschungel sollte eines nicht vergessen werden: Bestseller der Jugendliteratur werden von allen Generationen gelesen und geliebt. „Vielleicht könnten die Verlage versuchen, Jugendliche mit Lesen und nicht mit spezifischen Büchern zu erreichen“, schlägt Rina schließlich vor. Dieser simple Vorschlag erlaubt ein schönes Gedankenexperiment: Was wäre, wenn es nicht um Verkaufszahlen ginge, sondern darum junge Menschen mit Geschichten zu begeistern? 

Ein gutes Buch hat mehr als eine Seite

Paradoxerweise können Bücher Türen öffnen und verschließen. Der hohe institutionelle und moralische Sockel, auf dem wir Bücher in unserer Gesellschaft präsentieren, kann abschrecken, gerade jene, die nicht von Kindesalter an mit Büchern aufgewachsen sind. Bücher sind Geschichten, und als Menschen haben wir uns schon immer Geschichten erzählt. Doch wenn wir wollen, dass Bücher ein Medium für unser Geschichtenerzählen bleiben, müssen wir Lesen umdenken: Lesen ist nicht bloß der Konsum eines Gegenstandes, sondern Gemeinschaft, Freude, vielleicht eine erste Liebe. Statt nach dem nächsten Besteller für junge Menschen zu suchen, könnten Verlage sich stärker für diese Gemeinschaft einsetzen, Leseförderung betreiben. In gewissem Maße passiert das glücklicherweise schon. Aber es gibt noch viel zu tun. Denn es ist nicht allein Aufgabe der Verlage, die an ihre wirtschaftlichen Interessen gebunden sind. Sondern auch der vielen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen und der Privatpersonen, die sich bereits leidenschaftlich für Leseförderung einsetzen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die voraussetzt, dass wir Lesen als politische Handlung verstehen. 

Die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie warnt vor der Gefahr der einzigen Geschichte: wenn wir immer dieselben Geschichten-Muster über bestimmte Menschen und Orte hören, werden diese Muster unsere einzige Realität ohne Vorstellungsraum für andere Perspektiven. Das passiert leider sehr häufig: in den Medien, sozialen Netzwerken und persönlichen Gesprächen in denen Selbstbestätigung politischen Meinungsaustausch ersetzt. Um die Gefahr der einzigen Geschichte zu vermeiden, brauchen wir viele Geschichten. Wir müssen lernen, diesen Geschichten zuzuhören. Bücher können uns diese Geschichten vermitteln. Gute Jugendliteratur ist persönlich, komplex. Sie zeigt, dass es selten ein Schwarz und ein Weiß, ein Entweder und ein Oder gibt. Sie hilft, die Gegenwart zu verstehen, Perspektiven zu wechseln und zuzuhören. Sogar Erwachsenen.

Über Freya Schwachenwald:

1.Norddeutscher Lesefoerderkongress Buecherpiraten e.V. Luebeck,

Freya Schwachenwald unterstützt seit vielen Jahren den Bücherpiraten e.V. Ihr Schwerpunkt liegt dabei auf internationalen und kulturübergreifenden Projekten zur Leseförderung und ziviler Partizipation. 2015 wurde sie für ihr ehrenamtliches Engagement mit der Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Zur Zeit studiert sie Transkulturelle Studien und Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg und Yale, USA.

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